Aktuelles
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Zum Thema Arbeitsrecht
- Fehler bei Betriebsratswahl: Wahlausschreiben muss auch abwesenden Arbeitnehmern zugänglich gemacht werden
- Größe des Betriebsratsbüros: Freigestellten Betriebsratsmitgliedern stehen acht Quadratmeter zu
- Pflichtverletzung durch Betriebsratsvorsitzenden? Reine Verdachtsmomente reichen nicht für Ersetzung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung
- Unwirksame Kündigung: Vorerst ist der Ersatz von Fahrtkosten zu einer anderen Arbeitsstätte abgelehnt
- Wissenschaftliche Redlichkeit: Bewiesene Plagiatsvorwürfe berühren Kernbereich von Professorenpflichten und führen zur Kündigung
Das Feld der Betriebsratswahl ist weit und mit allerlei Stolperfallen bestückt - vor allem in Betrieben, in denen eine solche Wahl noch nicht zur Routine gehört. Läuft eine Betriebsratswahl nicht ordnungsgemäß ab, wird sie meistens angefochten und im schlimmsten Fall wiederholt. So geschah es auch in diesem Fall vor dem Thüringer Landesarbeitsgericht (LAG).
In einem großen Einzelhandelsunternehmen mit bundesweit 17 Niederlassungen wurden durch einen Zuordnungstarifvertrag Betriebsratsregionen gebildet. Die Betriebsratsregion Ost umfasste 870 Filialen mit ca. 14.500 Mitarbeitern. In dieser Region wurde dann eine Betriebsratswahl durchgeführt. Der Wahlvorstand fertigte ein sogenanntes Wahlausschreiben und versandte es auf elektronischem Weg in die Filialen. Dort wurde es wunschgemäß ausgedruckt und aufgehängt. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch mindestens 292 Mitarbeiter unter anderem wegen Mutterschutz, Elternzeit und Erkrankungen dauerhaft nicht in den Filialen beschäftigt. Nach Ablauf der Frist für die Einreichung von Wahlvorschlägen versandte der Wahlvorstand das Wahlausschreiben auch an die dauerhaft abwesenden Mitarbeiter - allerdings erst zusammen mit den Unterlagen für die Briefwahl. Schließlich wurde gewählt, und der Wahlvorstand gab das Wahlergebnis bekannt. Eine ganze Reihe von Arbeitnehmern erklärte daraufhin gerichtlich die Anfechtung der Wahl.
Das LAG gab dem Antrag statt und erklärte die angefochtene Betriebsratswahl für unwirksam. Die Versendung des Wahlausschreibens an die zum Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht präsenten Arbeitnehmer sei zu spät erfolgt. § 3 Abs. 4 Satz 4 der Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes verpflichtet den Wahlvorstand, das Wahlausschreiben unmittelbar nach seinem Erlass den Personen zugänglich zu machen, von denen ihm bekannt ist, dass sie im Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden. Die Versendung erst mit den Briefwahlunterlagen nach Ablauf der Fristen für Einsprüche gegen die Wählerliste und Einreichung von Wahlvorschlägen ist ein grundsätzlich zur Wahlanfechtung berechtigender Verstoß gegen eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren.
Hinweis: Alle Beteiligten sollten bei einer Betriebsratswahl versuchen, die geltenden Gesetze einzuhalten, um unangenehme Wahlwiederholungen zu vermeiden.
Quelle: Thüringer LAG, Beschl. v. 27.03.2024 - 4 TaBV 13/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Wie viel Fläche welchen Mitgliedern eines Betriebsrats am Arbeitsplatz geboten werden muss, war eine Frage, die das Landesarbeitsgericht Köln beantworten musste. Sinn und Zweck sowie Umfang der dort verrichteten Arbeit waren dabei für die Beantwortung ausschlaggebend.
Der Arbeitgeber des Falls hatte rund 70 Filialen, in denen 3.500 Mitarbeiter beschäftigt waren. Für einen Teilbetrieb mit 125 Mitarbeitern gab es für den installierten siebenköpfigen Betriebsrat ein Büro von 21 Quadratmetern Größe. Da dem Betriebsrat diese Fläche zu klein war, verlangte er ein Büro mit 28 Quadratmetern und zog deshalb vor das Arbeitsgericht - dies jedoch vergeblich.
Maßstab für die Größe des Betriebsratsbüros ist nach den Richtern die Anzahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder des Betriebs, denn nur diese werden regelmäßig dort arbeiten. Nach § 3a Abs. 1 Arbeitsstättenverordnung in Verbindung mit der Technischen Regel für Arbeitsstätten (ASR) A 1.2 muss jeder Arbeitsraum bei einem Arbeitsplatz mindestens eine Bürofläche von acht Quadratmetern aufweisen, für jeden weiteren Mitarbeiter zusätzliche acht Quadratmeter. Für Büro- und Bildschirmarbeitsplätze ergibt sich bei Einrichtung von Büros als Richtwert ein Flächenbedarf von acht bis bis zehn Quadratmetern je Arbeitsplatz, einschließlich Möblierung und anteiliger Verkehrsflächen im Raum. Bei einer betrieblichen Arbeitnehmerzahl von 125 Köpfen ergibt sich (nach § 38 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz) jedoch nur ein Anspruch auf die Freistellung eines Betriebsratsmitglieds - 21 Quadratmeter waren damit nicht nur vollkommen ausreichend, sondern nach den genannten Prämissen sogar viel zu groß.
Hinweis: Das Betriebsratsbüro muss so groß sein, dass Freigestellte hier arbeiten können. Platz für Betriebsratssitzungen oder Sprechstunden muss es nicht bieten. Hierfür müssen dann andere Räume zur Verfügung gestellt werden.
Quelle: LAG Köln, Beschl. v. 09.02.2024 - 9 TaBV 34/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Wenn ein Mitglied des Betriebsrats gekündigt werden soll, muss das Betriebsratsgremium vor der Kündigung zustimmen. Tut es das nicht, kann der Arbeitgeber versuchen, die Zustimmung durch das Arbeitsgericht ersetzen zu lassen - so wie in diesem Fall von dem Landesarbeitsgericht Hamm (LAG).
Ein Maschinenbauunternehmen beabsichtigte, dem für die Betriebsratsarbeit freigestellten Vorsitzenden des Betriebsrats eine außerordentliche Verdachtskündigung auszusprechen. Dabei berief es sich auf den dringenden Verdacht der unzutreffenden Dokumentation von Arbeitszeiten und einen dadurch ihr entstandenen Vermögensschaden. Der Betriebsrat verweigerte jedoch die notwendige Zustimmung. Deshalb beantragte das Unternehmen, die Zustimmung des Betriebsrats zum Ausspruch der Verdachtskündigung des Betriebsratsvorsitzenden ersetzen zu lassen.
Dem kam das LAG hier jedoch nicht nach. Zwar bestanden Verdachtsmomente, jedoch kein hierfür erforderlicher dringender Verdacht der Pflichtverletzung. Sobald auch andere Geschehensabläufe denkbar sind, die den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nicht rechtfertigen würden, fehlt es an einem wichtigen Grund zur Rechtfertigung der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung.
Hinweis: Betriebsräte sind durch das Kündigungsschutzgesetz besonders vor einer Kündigung geschützt. Das ist auch richtig und gut, denn andernfalls könnten sie ihren gesetzlichen Aufgaben aus dem Betriebsverfassungsgesetz nicht ordnungsgemäß nachkommen.
Quelle: LAG Hamm, Beschl. v. 10.05.2024 - 12 TaBV 115/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Stellen Sie sich vor, Sie erhalten eine Kündigung und klagen dagegen erfolgreich an. In der Zeit des Verfahrens arbeiten Sie bei einem anderen Arbeitgeber, haben aber erhöhte Fahrtkosten. Können Sie diese nach Erfolg Ihrer Klage auch ersetzt verlangen? Das Arbeitsgericht Bonn (ArbG) verneint dies. Ob diese Auffassung Bestand haben wird, wird die Zukunft jedoch noch zeigen müssen.
Mit Schreiben vom 13.09.2021 kündigte eine Arbeitgeberin fristlos das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer. Dieser legte eine Kündigungsschutzklage ein und gewann sowohl in der ersten als auch in der zweiten Instanz. Mit Schreiben vom 27.06.2023 machte er deshalb umfangreiche Annahmeverzugsansprüche geltend. Während des dauernden Annahmeverzugs bezog er zunächst Arbeitslosengeld. Danach verdiente er bei einem anderen Arbeitgeber insgesamt 64.000 EUR brutto. Die Arbeitgeberin zahlte dem Arbeitnehmer etwas über 20.000 EUR brutto Annahmeverzugsvergütung. Jedoch stritten sich die Parteien weiter über Zahlungen: Der Arbeitsweg des Arbeitnehmers zum Arbeitsplatz bei der beklagten Arbeitgeberin betrug 13 km bis 16 km (einfache Strecke) - der Weg zum Arbeitgeber, bei dem er anderweitigen Erwerb erzielte, belief sich jedoch auf 45 km bis 46 km für die kürzeste Straßenverbindung (einfache Strecke). Der Arbeitnehmer war nun der Ansicht, dass die Arbeitgeberin ihm die zusätzlichen Fahrtkosten für die Erzielung anderweitigen Erwerbs im Wege des Schadensersatzes zu ersetzen habe.
Diese Auffassung teilte das ArbG jedoch nicht. Spricht der Arbeitgeber eine unwirksame Kündigung aus und hat der Arbeitnehmer zur Erzielung anderweitigen Verdienstes während des Annahmeverzugszeitraums höhere Fahrtkosten als bei einem fortgeführten Arbeitsverhältnis, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Schadensersatz gegen den Arbeitgeber, der auf den Ersatz dieser Fahrtkosten gerichtet ist. Die Fahrtkosten während des Annahmeverzugs hat der Arbeitnehmer freiwillig auf sich genommen. Es handelte sich nach Auffassung des Gerichts also um Aufwendungen, die nicht zu ersetzen sind.
Hinweis: Ob diese Entscheidung Bestand haben wird, muss sich zeigen. Sicherlich kann mit genauso guten Argumenten die Geltendmachung des Schadens befürwortet werden. Es wird abzuwarten sein, wie eine höhere Instanz die Angelegenheit beurteilen wird. Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage sollten daher zunächst versuchen, die Kosten trotz dieses Urteils durchzusetzen.
Quelle: ArbG Bonn, Urt. v. 24.04.2024 - 5 Ca 1149/23
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Vertrauensbruch ist ein absoluter Kündigungsgrund. Manchmal wiegt ein solcher sogar so schwer, dass Arbeitgeber fast gar nicht anders können, als sich von einem Arbeitnehmer zu trennen. In diesem Fall, der vor dem Arbeitsgericht Bonn (ArbG) landete, handelte es sich um eine Professorin der Universität Bonn, die es mit der wissenschaftlichen Redlichkeit nicht ganz genau genommen hatte.
Die angestellte Professorin im Fachbereich Politikwissenschaften wurde zum 31.03.2023 entlassen, nachdem ihr vorgeworfen wurde, die Grundsätze der guten wissenschaftlichen Praxis nicht eingehalten zu haben, indem sie in insgesamt drei ihrer Publikationen jeweils an verschiedenen Stellen plagiiert habe. Die Professorin meinte, es handele sich nur um Zitierfehler in Schriften mit populärwissenschaftlichem Charakter. Sie klagte deshalb gegen die Kündigung, scheiterte aber vor Gericht.
Laut Auffassung des ArbG hatte die Professorin jedenfalls in einer ihrer Publikationen, die sie im Rahmen ihrer Bewerbung vorlegte, die Grundsätze der wissenschaftlichen Redlichkeit vorsätzlich nicht eingehalten. Das stellte in einem Bewerbungsverfahren um einen universitären Lehrstuhl eine wesentliche Pflichtverletzung dar.
Hinweis: Wegen der Schwere der Verletzung in einem Kernbereich der Pflichten einer Professorin war auch eine vorherige Abmahnung als milderes Mittel ausnahmsweise nicht erforderlich.
Quelle: ArbG Bonn, Urt. v. 24.04.2024 - 2 Ca 345/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Zum Thema Familienrecht
- Haager Kindesentführungsabkommen: Über die Rückführung eines Kleinkinds in Krisengebiete
- Kein Beschluss nach Aktenlage: Kinder müssen vom Familienrichter angehört werden
- Klageweg vereinfacht: BGH ändert seine Rechtsprechung zum Kindesunterhalt im Wechselmodell
- Sorgerechtsentzug keine Lösung: Wenn Kinder den Kontakt zu einem Elternteil verweigern
- Statistik des Bundesfamilienministeriums: Familienreport zeigt Lebenslagen von Familien auf
- Personen mit Kindern im Haushalt sind insgesamt zufriedener als Personen ohne eigene Kinder.
- In Ostdeutschland leben im Vergleich zu Westdeutschland mehr Alleinerziehende (25 % versus 19 %) und mehr unverheiratete Eltern (21 % versus 10 %).
- Die Betreuungsquote der unter Dreijährigen in Kindertagesbetreuungen ist erneut gestiegen (36,4 % im Jahr 2023) - im Vergleich zum Jahr 2006 hat sie sich fast verdreifacht.
- Eltern verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern als noch vor zehn Jahren (Väter + 28 Minuten/Tag; Mütter: + 33 Minuten/Tag).
- Trotz der zunehmenden Bereitschaft der Väter, Verantwortung zu übernehmen, schultern weiterhin die Mütter den Großteil der Kinderbetreuung.
- Viele Eltern wünschen sich eine partnerschaftliche Aufgabenteilung bei Familie und Beruf. Es gelingt ihnen aber häufig nicht, dies in die Realität umzusetzen. 75 % der Mütter in Paarfamilien übernehmen den Großteil der Kinderbetreuung, aber nur 48 % finden das ideal.
- Elternpaare, die Sorge- und Erwerbsarbeit partnerschaftlich aufteilen, berichten deutlich häufiger über ein gutes Familienklima, enge Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und gegenseitige Unterstützung.
- Väter sind heute seltener Alleinverdiener als früher. Der Anteil der Familien mit einem traditionellen Alleinverdienermodell ist von 33 % (2008) auf 26 % (2022) zurückgegangen. Der Anteil der erwerbstätigen Mütter ist im selben Zeitraum von 63 % auf 69 % gestiegen
Internationale Kindesentführungen folgen in allen Staaten, die dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) beigetreten sind, einer einfachen Regel: Schnellstens muss das Kind in das Land der Entführung zurück, damit dort gerichtlich über sein weiteres Schicksal entschieden werden kann. Doch was ist, wenn es sich wie im Fall des Oberlandesgerichts Stuttgart (OLG) dabei um ein Krisengebiet handelt?
In diesem Fall ging es um ein nicht einmal ein Jahr altes Kind eines griechisch-deutschen Elternpaars, das aus beruflichen Gründen in Israel lebte. Die Mutter flog heimlich mit dem Kind nach Deutschland, der Vater stellte bei der Behörde in Israel einen Antrag auf Rückführung.
Das OLG verurteilte die Mutter auch tatsächlich, das Kind innerhalb einer Woche nach Israel zurückzubringen, und drohte ihr bei Weigerung Ordnungsgeld und Ordnungshaft an. Zudem gab das Gericht dem Gerichtsvollzieher die Freigabe, das Kind nach Ablauf dieser Frist mit Durchsuchen der Wohnung und polizeilicher Hilfe abzuholen.
Zur Eskalation des Nahostkonflikts nahm das OLG wie folgt Stellung: Die Voraussetzungen der Härteklausel gemäß Art. 13 HKÜ können vorliegen, wenn das Kind in ein Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet zurückgeführt werden soll und dort eine konkrete Gefahr für das Kind bestehe. Allerdings gehören die in dem Herkunftsstaat herrschenden generellen Lebensbedingungen zum allgemeinen Lebensrisiko, das in der Regel hinzunehmen sei. Eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts führe nicht automatisch zur Annahme einer schwerwiegenden Gefahr. Bei der Prüfung der Frage, ob die maßgebliche Gefährdungsschwelle im vorliegenden Fall erreicht ist, hat das OLG berücksichtigt, dass die Sicherheitslage im Staat Israel schon seit langer Zeit angespannt sei und beide Elternteile im Jahr 2020 das Risiko, in Israel zu leben, als vertretbar angesehen und sich für einen Aufenthalt dort entschieden haben.
Hinweis: Die Ukraine betreffend hatte dasselbe OLG eine Rückführung abgelehnt und führte in seiner neuen Entscheidung aus, dass die Gefahrenlage in der Ukraine nicht mit der in Israel vergleichbar sei.
Quelle: OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.05.2024 - 17 UF 71/24
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Über Kinder darf nicht wie über Sachen - also nie nach Aktenlage - entschieden werden. Das Gericht muss sich stets einen persönlichen Eindruck vom betroffenen Kind verschaffen und es kennenlernen. Weil es daran mangelte, hob das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) die Entscheidung eines Familienrichters als verfahrensfehlerhaft auf und gab ihm auf, die erforderliche Anhörung nachzuholen.
Es ging um einen unstreitig alkoholkranken Vater, der rückfällig geworden war. Jemand hatte anonym eine Kindeswohlgefährdung beim Jugendamt gemeldet, das bei einem Hausbesuch das Kind dann auch in Obhut nahm. Im Verfahren behauptete der Vater, er sei nun abstinent und könne das Kind versorgen. Außerdem wolle das Kind auch wieder bei ihm wohnen. Von seiner Abstinenz war das Gericht jedoch nicht überzeugt. Es käme wegen der objektiven Kindeswohlgefährdung auf den Kindeswillen sowieso nicht an - und so veranlasste der Richter auch keine Anhörung des Kindes.
Laut OLG ist die persönliche Anhörung des Kindes jedoch zwingend. Sie dient auch dem Verschaffen eines Eindrucks von dem Kind durch das Familiengericht, um daraus Rückschlüsse auf dessen Befindlichkeit, Wünsche, Neigungen und Bindungen zu ziehen. Das OLG habe daher die Aufgabe, das Verfahren unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstands und der sonstigen Fähigkeiten des Kindes so zu gestalten, dass das Kind seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden lassen kann. Sollte tatsächlich, wie das erstinstanzliche Gericht mutmaßt, der Wille des Kindes mit dessen Wohl nicht in Einklang zu bringen sein, ist dies in der Entscheidung zu begründen. Das Gericht hat von vornherein die Pflicht, den Kindeswillen im Rahmen der Amtsermittlung zu erforschen. Denn dieser sei zu berücksichtigen, soweit das mit Kindeswohl vereinbar ist. Eine angemessene Berücksichtigung findet der Kindeswille selbst dann, wenn er gegen andere Kindeswohlkriterien abgewogen und ihm im Ergebnis nicht nachgekommen wird.
Hinweis: Seit Juni 2021 gilt die Anhörungspflicht unabhängig vom Alter des Kindes. Eine Unterscheidung nach dem Kindesalter hielt der Gesetzgeber im Hinblick darauf für nicht erforderlich, dass die Fähigkeiten eines Kindes, einen eigenen Willen zu entwickeln und im Verfahren zum Ausdruck zu bringen, individuell verschieden und nicht vom Alter des Kindes abhängig sind. Bereits zuvor war die Anhörung von Kindern jedenfalls ab einer Altersgrenze von drei Jahren als erforderlich erachtet worden.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.02.2024 - 18 UF 221/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Im "echten Wechselmodell", bei dem Kinder getrennt lebender Eltern sich hälftig in beiden Haushalten aufhalten, war es bislang kompliziert, Unterhalt einzuklagen. Der "Wenigerverdiener", dem ein Ausgleich zustünde, musste sich dafür erstmal das Recht durch ein vorgeschaltetes Sorgerechtsverfahren verschaffen, in dem das Gericht alternativ einen neutralen Ergänzungspfleger für den Aufgabenkreis "Unterhalt" einsetzen kann. So war es bislang auf Basis einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH).
2024 hat der BGH diese Rechtsprechung aufgegeben und in einer Fallgestaltung unverheirateter Eltern (für Geschiedene muss das Gleiche gelten) die Tür dafür geöffnet, ohne dieses Vorverfahren auszukommen. Im Fall eines Wechselmodells sind jetzt beide - nicht miteinander verheirateten - Eltern in der Lage, direkt den Unterhalt einzuklagen. Das Kind ist dann der Antragsteller - vertreten durch einen Elternteil -, und beide Eltern können Gegner sein. Es war bisher undenkbar, dass auf diese Weise ein Elternteil quasi auf beiden Seiten des Verfahrens steht.
Der BGH hält das nun für zulässig, weil es sich bei den gegen die Eltern als Teilschuldner (§ 1606 Bürgerliches Gesetzbuch) gerichteten Unterhaltsansprüchen um verschiedene Verfahrensgegenstände handelt. Zur Ermöglichung der abschließenden Klärung des gesamten Unterhalts in einem Verfahren sei das verfahrensökonomisch.
Hinweis: Bevor der BGH seine Entscheidung vom 10.04.2024 veröffentlicht hatte, kam das Oberlandesgericht Nürnberg zum selben Ergebnis (Beschl. v. 23.05.2024 - 10 WF 168/24).
Quelle: BGH, Beschl. v. 10.04.2024 - XII ZB 459/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Streiten sich Eltern so sehr, dass die Beziehung "hochkonflikthaft" genannt wird, wissen Gerichte oft keinen besseren Rat zum Schutz der Kinder, als den Kontaktabbruch zum Umgangselternteil zu akzeptieren. So war es im Fall des Oberlandesgerichts Köln (OLG). Hier waren die beiden Söhne vom Haushalt der Mutter in den des Vaters gewechselt und verweigerten nun den Kontakt zur Mutter.
Seit der Trennung 2021 hatte es bereits neun Gerichtsverfahren zwischen den Eltern gegeben - mit einer Reihe an Vorwürfen. Die Folgen: Das Jugendamt hatte eine Familienhilfe eingesetzt, ein Umgangspfleger sollte für reibungslose Kontakte sorgen, ein familienpsychologisches Gutachten wurde eingeholt. Der Vater verweigerte die Zusammenarbeit mit der Gutachterin und der Verfahrensbeiständin und schirmte die Kinder von diesen ab. Die Gutachterin musste daher nach Aktenlage bewerten, dass sich die Kinder in einem massiven Loyalitätskonflikt befänden. Auch wenn das Verhalten des Vaters, die Mutter absolut auszugrenzen, langfristig ihre Entwicklung gefährden könne, könnten erzwungene Umgangskontakte dieses Entwicklungsrisiko nicht mindern. Kontakte zur Mutter könnten also derzeit nicht stattfinden. Der Aufgabenkreis "Umgang" könne daher auf einen Ergänzungspfleger übertragen werden, der im Kontakt mit den Kindern den Zeitpunkt für eine Anbahnung ermitteln könne.
Das Amtsgericht entzog dem Vater daraufhin das Sorgerecht für den Aufgabenkreis "Umgang" und setzte das Jugendamt hierfür als Umgangspfleger ein. Sein Verhalten - nämlich die fehlende Kooperation mit sämtlichen Verfahrensbeteiligten - begründe eine Kindeswohlgefährdung, da somit eine weitere Aufklärung in der Sache verhindert werde und Umgänge der Kinder mit der Kindesmutter nicht stattfinden könnten.
Das OLG gab dem Vater das Sorgerecht zurück. Es war davon überzeugt, dass die Jungen die Kontaktverweigerung selbst als einzige Lösungsmöglichkeit sehen, um zur Ruhe zur kommen. Alles spreche dafür, dass sie in ihrem Loyalitätskonflikt befürchten würden, dass ihre Bewältigungsstrategien zusammenbrechen, wenn sie sich der Auseinandersetzung mit der Beziehung zu beiden Eltern stellen müssen. Der von den beiden Jungen geäußerte Wille sei stabil und beruhe auf ihren inneren Bindungen. Deshalb komme es nicht darauf an, ob dieser Wille auch durch das Verhalten des bindungsintoleranten Kindesvaters zustande gekommen ist. Zudem sei der Entzug des Sorgerechts kein geeignetes Mittel, die Meinung der Kinder zu verändern.
Hinweis: Der geäußerte Wille von Kindern wird auch dann beachtet, wenn er ursprünglich durch Manipulation entstanden ist, inzwischen aber vom Kind als eigener Wille empfunden wird. Schwierig ist die Beurteilung, ob die Kinder aus Angst vor Liebesentzug oder Sanktionen etwas anderes sagen, als sie sich eigentlich wünschen.
Quelle: OLG Köln, Beschl. v. 16.05.2024 - 14 UF 22/24
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im Mai 2024 mit dem "Familienreport" seine Auswertung amtlicher Statistiken, wissenschaftlicher Studien und repräsentativer Bevölkerungsumfragen veröffentlicht.
Daraus einige Erkenntnisse:
Quelle: BMFSFJ, Pressemitteilung Nr. 024 v. 14.05.2024, www.bmfsfj.de
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Zum Thema Mietrecht
- BGH konkretisiert Anforderungen: Prüfung auf nicht zu rechtfertigende Härte bei Suizidgefahr nach Wohnungskündigung
- Eigenbedarf für Teilgewerbe: Begründeter beachtenswerter Nachteil reicht vermieterseitig aus
- Feuchte Wohnung: Nicht erst Schimmel berechtigt zur Mietkürzung
- Störung des Hausfriedens: Auf das Überschütten des Vermieters mit Wasser folgt die fristlose Kündigung
- Vermieter widerspricht Kündigung: Nutzungsentschädigung für Weiterbenutzung der Mietsache nur bei Rücknahmewillen
Es ist als Härtefallgrund anerkannt, dass eine Räumung nach einer Kündigung des Mietverhältnisses zu unterbleiben hat, wenn der Mieter mit Suizid droht. Wie diese Gefahr künftig seriös zu prüfen und bewerten ist, hat kürzlich der Bundesgerichtshof (BGH) anhand eines aktuellen Falls konkretisiert.
Ein Mann wohnt seit 1988 mit seiner Lebensgefährtin in einer im Dachgeschoss gelegenen Zweizimmerwohnung. Der Vermieter hatte nun die ordentliche Kündigung wegen Eigenbedarfs erklärt, der die Mieter widersprachen. Ihren Widerspruch begründeten sie damit, dass die Kündigung für sie eine besondere Härte darstelle, da ein Umzug aufgrund ihrer gesundheitlichen sowie finanziellen Situation "schlicht unmöglich" sei. Schließlich verlangte der Vermieter die Räumung. Das zuständige Landgericht (LG) holte daraufhin ein schriftliches psychiatrisches Gutachten ein und hörte im Anschluss den Sachverständigen an, bevor es der Räumungsklage stattgab. Dagegen legten die Mieter Revision ein.
Der BGH hat das Berufungsurteil hinsichtlich der Härteregelung aufgehoben und die Angelegenheit zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dazu gab er folgende Hinweise: Werden von dem Mieter ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren substantiiert geltend gemacht, haben sich die Gerichte beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild zu verschaffen. Zwar hatte das LG die Suizidankündigung beider Mieter als ernsthaft bewertet und erkannt, dass diese bereits einen konkreten Plan entwickelt und Vorbereitungen in Form einer Ansammlung von Medikamenten getroffen hätten. Rechtsfehlerhaft hat es aber der hieraus resultierenden Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Mieter allein deshalb keine Bedeutung bei der Prüfung des Vorliegens einer Härte beigemessen, weil der diesbezügliche Wille von den Beklagten frei gebildet worden sei und sich als im Rahmen ihrer freien Willensbildung gewählte Reaktionsstrategie auf den möglichen Verlust ihrer Wohnung darstellte. Eine solche Sichtweise wird jedoch dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht in der erforderlichen Weise gerecht. Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsproblemen oder Lebensgefahr sind die Gerichte verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen und den hieraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das muss vom LG nun entsprechend nachgeholt werden.
Hinweis: Es dürfte also künftig vermehrt zur Einholung von Sachverständigengutachten kommen, wenn tatsächlich ein Suizid vom Mieter angedroht wird. Das dürfte die Räumungsverfahren zu Lasten der Vermieter weiter in die Länge ziehen.
Quelle: BGH, Urt. v. 10.04.2024 - VIII ZR 114/22
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Die Kündigung wegen Eigenbedarfs für Wohnzwecke ist eindeutig, und wenn der Vermieter die hierfür notwendigen Regeln einhält, wird er vor Gericht obsiegen. Was aber passiert, wenn er die Wohnung nur teilweise zu Wohnzwecken nutzen will, musste kürzlich der Bundesgerichtshof (BGH) beantworten.
Mieter bewohnten seit 1977 eine Dreizimmerwohnung in Berlin. Sie hatten zuletzt im September 1982 einen schriftlichen Mietvertrag abgeschlossen, wonach das Mietverhältnis am 01.07.1982 beginnen sollte. Es war zudem eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten vorgesehen, wenn seit der Überlassung des Wohnraums zehn Jahre vergangen sind. Im Juli 2013 wurde das Haus in Eigentumswohnungen aufgeteilt. Im Jahr 2018 erwarb ein neuer Eigentümer die Wohnung und erklärte im Januar 2021 die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.10.2021. Zur Begründung führte er unter anderem aus, die Räume künftig überwiegend für seine berufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt zu nutzen und dort auch seinen Wohnsitz begründen zu wollen, nachdem das Mietverhältnis über seine bisher genutzten Kanzlei- und Wohnräume zu diesem Zeitpunkt ende. Dieser Wunsch stelle ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses dar. Im August 2021 teilte das Bezirksamt dem Rechtsanwalt mit, dass die Genehmigung der beantragten gewerblichen Zweckentfremdung der Wohnung beabsichtigt sei, sofern es sich bei dieser um seine Hauptwohnung handele. Daraufhin verlangte der Rechtsanwalt die Räumung der Wohnung und klagte.
In den ersten beiden Instanzen wurde die Räumungsklage abgewiesen - der BGH hob das Urteil jedoch wieder auf. Beabsichtigt der Vermieter, die Mietwohnung nicht nur zu Wohnzwecken zu beziehen, sondern dort zugleich überwiegend einer (frei-)beruflichen Tätigkeit nachzugehen, wird es für das Vorliegen eines berechtigten Interesses an der Beendigung des Mietverhältnisses regelmäßig ausreichen, dass ihm andernfalls ein "beachtenswerter Nachteil" entstünde. Die Vorinstanz war noch davon ausgegangen, dass es hierfür sogar einen "gewichtigen Nachteil" für den Vermieter geben müsse. Das war jedoch nicht korrekt. Deshalb muss die Vorinstanz nun entscheiden, ob ein lediglich "beachtenswerter Nachteil" für den Rechtsanwalt entsteht, wenn der Räumungsklage nicht stattgegeben wird. Auch die zu kurz bemessene Kündigungsfrist durch den Vermieter wird den Mietern nicht helfen. Es ist eindeutig, dass der Vermieter das Mietverhältnis beenden will. Dann gilt die Kündigung zum nächsten zulässigen Termin.
Hinweis: Das Gericht der vorherigen Instanz muss die Angelegenheit nun nach Maßgabe der Vorgaben des BGH nochmals entscheiden. Vieles spricht dafür, dass die Mieter die Wohnung nun räumen müssen.
Quelle: BGH, Urt. v. 10.04.2024 - VIII ZR 286/22
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Ist die Mietwohnung feucht, ist dies einer der häufigsten Mietminderungsgründe. Auch im folgenden Mietrechtsfall des Landgerichts Paderborn (LG) war Feuchte in Wohn- und Kellerräumen Gegenstand der Frage, in welcher Höhe eine mieterseitige Kürzung des Mietzinses berechtigt sein könne.
Eine Frau war seit 2019 Mieterin einer Altbauwohnung im Erdgeschoss eines Hauses, das ca. 1926 errichtet wurde. Sowohl der Keller des Hauses als auch der zur Wohnung gehörende Kellerraum waren feucht. Ebenfalls bestand Feuchtigkeit in Teilen der Wände der Mietwohnung. Die Feuchtigkeit hatte dort bereits auch zu sichtbaren Salzausblühungen und zerbröselndem Putz geführt. Die Mieterin hielt die Feuchtigkeit in der Wohnung und im Keller für einen Mietmangel, der sie zur Mietminderung von 50 % berechtige. Der Vermieter habe trotz unverzüglicher Anzeige keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um die Feuchtigkeit im Mauerwerk und die zugrundeliegende Ursache zu beheben. Der Vermieter meinte dagegen, ein Mangel der Mietsache liege nicht vor. In der Wohnung bestehe kein Schimmel. Das Haus entspreche dem Baustandard von 1924. Zudem sei eine Beseitigung der Ursache unverhältnismäßig. Schließlich klagte die Mieterin.
Der Mieterin stand laut LG sowohl ein Anspruch auf Beseitigung der Mängel in den betroffenen Wänden in Schlafzimmer, Flur und Wohnzimmer als auch ein Minderungsrecht von 20 % zu. Das galt allerdings beides nicht für die im Kellerraum bestehende Feuchtigkeit in den Wänden. Durch die Durchfeuchtung der Wände war die Tauglichkeit der Mietsache gemindert. Massive Durchfeuchtungen von Innen- und Außenwänden von Mietwohnungen haben erhebliche nachteilige Auswirkungen auf Wohnkomfort, Gesundheit und den optischen Eindruck. Massive Durchfeuchtungen der Innen- und Außenwände müssten deshalb weder in Wohnungs- noch in Teileigentumseinheiten hingenommen werden - und zwar auch dann nicht, wenn gesundheitsschädlicher Schimmel (noch) nicht aufgetreten ist.
Hinweis: Mietschäden sollten vom Vermieter ausreichend und beweissicher dokumentiert werden. Der Nachweis des Schadens muss im Zweifel auch nach mehreren Monaten und Jahren noch möglich sein.
Quelle: LG Paderborn, Urt. v. 06.03.2024 - 1 S 72/22
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Halten Sie an sich, wenn Sie Wut auf Ihren Vermieter verspüren. Denn der Wohnungsmarkt gibt kaum Ausweichmöglichkeiten, wenn auf einen tätlichen Wutausbruch die fristlose Kündigung folgt. Wer sich mit Rechtsmitteln wehrt, dem kann hingegen geholfen werden - und zwar, bevor es zu spät ist, wie in diesem Fall, der vor dem Amtsgericht Hanau (AG) landete.
Eine Mieterin ärgerte sich über ihre Vermieterin, weil diese das Fahrrad im Hof umgestellt hatte. Nun bestätigte ein Zeuge, dass die Mieterin zweimal einen Eimer Wasser aus dem Fenster in den Hof gegossen habe, als sich die Vermieterin dort befand. Infolgedessen sei die Frau zweimal "klitschnass" geworden wie bei der "Ice-Bucket-Challenge". Die Mieterin behauptete hingegen, keine direkte Absicht gehabt zu haben, die Vermieterin zu treffen. Gleichwohl wollte sie die Vermieterin davon abhalten, ihr Fahrrad umzustellen. Die Vermieterin erklärte jedoch die Kündigung und erhob eine Räumungsklage.
Das AG hat der Klage nun auch stattgegeben. Das Verhalten der Mieterin rechtfertigte eine fristlose Kündigung wegen Störung des Hausfriedens. Eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses war für die Vermieterin daher unzumutbar. Bereits ein einzelner Wasserguss war dazu geeignet, aufgrund seiner Nachhaltigkeit und Schwere einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darzustellen. In einem solchen Fall war eine vorige Abmahnung nicht erforderlich.
Hinweis: Jegliche Tätlichkeiten von einem Mieter gegen den Vermieter führen in aller Regel zu einem fristlosen Kündigungsrecht des Vermieters für das Mietverhältnis. Das sollten sich Mieter klarmachen.
Quelle: AG Hanau, Beschl. v. 19.02.2024 - 34 C 92/23
zum Thema: | Mietrecht |
(aus: Ausgabe 07/2024)
Auch wenn man meint, dass meist die Vermieter ihre Mieter loswerden wollen und sich Letztere dagegen gerichtlich wehren, gibt es durchaus Fälle, in denen es umgekehrt ist. Im folgenden Fall des Landgerichts Hanau (LG) akzeptierte der Vermieter eine mieterseitige Kündigung nicht und musste am Ende einsehen, dass dies wirtschaftlich die falsche Entscheidung war.
Ein Mieter hatte seine Mietwohnung zum Ende August 2017 gekündigt. Der Vermieter widersprach der Kündigung unter Hinweis auf eine Klausel zum Kündigungsausschluss im Mietvertrag. Darüber kam es zu einem gerichtlichen Rechtsstreit. Der Mieter war bereits bei Vertragsende ausgezogen, hatte jedoch zeitweise noch einige Möbel in der Wohnung stehengelassen. Aufgrund des laufenden Gerichtsverfahrens zahlte er die vertragliche Miete unter Vorbehalt weiter. Die Gerichte hatten dann in einem Vorprozess dem Mieter Recht gegeben und die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt. Nun forderte der Mieter seine unter Vorbehalt geleisteten Zahlungen zurück. Der Vermieter meinte hingegen, ihm stehe bis zur Rückgabe der Wohnung Nutzungsentschädigung in Höhe der vertraglich vereinbarten Miete zu.
Das sah das LG anders und hat dem Vermieter lediglich für die Unterstellung der Möbel einen Betrag von monatlich 120 EUR zuerkannt. Die Richter meinten, dass einem Vermieter gegen den Mieter für die Zeit, in der dieser ihm die Wohnung nach Beendigung des Mietverhältnisses nicht zurückgibt, nur dann ein Anspruch auf die gesetzlich angeordnete Nutzungsentschädigung zusteht, wenn er auch einen Rücknahmewillen hat. Hier aber hatte er sogar der Kündigung widersprochen, so dass er keine Nutzungsausfallentschädigung verlangen konnte.
Hinweis: Gegen das Urteil wurde Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Alles spricht jedoch dafür, dass das Urteil richtig ist. Vermieter sollten sich nach einer Kündigung durch den Mieter beraten lassen, wie sie darauf reagieren sollten. Der Widerspruch - auch gegen eine vielleicht rechtswidrige Kündigung - ist nicht immer die finanziell beste Entscheidung.
Quelle: LG Hanau, Urt. v. 22.11.2023 - 2 S 35/22
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Zum Thema Verkehrsrecht
- Anspruchskürzung möglich: Auch 2021 gehört Schutzkleidung nicht zum allgemeinen Verkehrsbewusstsein von Bikern
- Beweis des ersten Anscheins: Erfahrungswerte gehen grundsätzlich vom Alleinverschulden des Auffahrenden aus
- Fußgänger auf Radweg: Keine Prozesskostenhilfe bei aussichtsloser Rechtsverteidigung nach selbstverschuldeten Unfall
- Kein Strafklageverbrauch: Keine innere Verknüpfung von zeitgleichem Fahren ohne TÜV und ohne Fahrerlaubnis
- Wissenschaftliche Empfehlung: Gericht setzt THC-Grenzwert beim Führen eines Kfz auf 3,5 ng/ml THC fest
Was ist eine sommerliche Motorradtour wert, wenn diese grenzenlose Freiheit in Leder und Gummi gezwängt wird? Die Antwort des Oberlandesgerichts Celle (OLG) mag trösten, doch Vorsicht: Andere Gerichte vertreten eine andere Auffassung, wenn es um die Frage geht, welche Verletzungen im Ernstfall durch eine angemessene Schutzkleidung hätten vermieden werden können.
Im Jahr 2021 fuhr der Kläger mit seinem Motorrad hinter einem landwirtschaftlichen Gespann. Trotz Überholverbots überholte er dieses Gespann. Während des Überholvorgangs kam es zur Kollision, weil der Fahrer des Gespanns nach links in eine Einmündung abbog. Bei dem Unfall verletzte sich der Kläger. Die gegnerische Haftpflichtversicherung wendete ein, dass die Verletzungsfolgen durch das Tragen von Motorradschutzkleidung - insbesondere einer Motorradhose - entweder gar nicht erst eingetreten oder eben nicht derart schwerwiegend ausgefallen wären.
Das OLG gab der Klage zu 50 % statt. Das Gericht nahm dabei ein Mitverschulden des Klägers an, weil er trotz Überholverbots überholte. Daneben sah der Senat allerdings auch eine Mithaftung beim Fahrer des Gespanns, weil dieser vor dem Abbiegen gegen seine doppelte Rückschaupflicht verstoßen habe. Zudem sei bei seinem Gespann von einer erhöhten Betriebsgefahr auszugehen.
Bezüglich des Arguments der Beklagten, die Verletzungsfolgen wären durch das Tragen von Schutzkleidung, insbesondere einer Motorradhose, gemindert gewesen oder gar vermieden worden, wies das OLG darauf hin, dass keine gesetzliche Regelung für das Tragen von Motorradschutzkleidung existiere. Der Bundesgerichtshof habe 1979 festgestellt, dass grundsätzlich maßgeblich ist, ob und inwieweit ein allgemeines Verkehrsbewusstsein besteht, zum eigenen Schutz bestimmte Schutzkleidung zu tragen. Recherchen des Senats haben ergeben, dass im Jahr 2021 nur 45,9 % der Motorradfahrer neben einem Helm weitere Schutzkleidung getragen haben, komplette Schutzkleidung dagegen nur 24,6 %. Daher könne auch für 2021 nicht von einem allgemeinen Verkehrsbewusstsein für das Tragen von Motorradschutzkleidung - insbesondere einer Motorradhose - ausgegangen werden.
Hinweis: Ob das Nichttragen von Motorradschutzkleidung als Anspruchskürzung zu berücksichtigen ist, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich behandelt. So vertreten einige Gerichte durchaus die Auffassung, dass das Nichttragen von Motorradschutzkleidung ein Mitverschulden des Geschädigten begründet, wenn hierdurch Verletzungen vermieden oder vermindert worden wären. Einigkeit besteht nur darüber, dass das Nichttragen von Motorradschuhen kein Mitverschulden begründet. Das Gericht muss entscheiden, ob der Verletzte die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 13.03.2024 - 14 U 122/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
"Es kommt darauf an" ist eine Art erstes Gebot in der juristischen Bewertung von Sachverhalten. Dagegen spricht der sogenannte Anscheinsbeweis, der sich auf Erfahrungswerte aus ähnlich gelagerten Fällen speist. Wer sich auf den erstgenannten Grundsatz stützen will, braucht stichhaltige Beweise, an denen es dem Beklagten eines Auffahrunfalls fehlte, der vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht (OLG) stand.
Die Tochter der Klägerin befuhr innerorts eine Straße. An einer Kreuzung musste sie als erstes Fahrzeug an der Ampelanlage anhalten. Diese zeigte sowohl für den Geradeausverkehr als auch für Rechtsabbieger Rot. Nachdem die Tochter der Klägerin wieder angefahren war, bremste sie nach Überfahren der Haltelinie vollständig ab - warum, blieb unklar. Klar allerdings war, dass der hinter ihr fahrende Beklagte auf ihr Fahrzeug auffuhr.
Das OLG nahm eine Haftungsverteilung von 80 zu 20 zugunsten der Klägerin an. Gegen den Beklagten spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er den Unfall allein verschuldet habe. Von einem atypischen Geschehensablauf könne nicht ausgegangen werden. Um den Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden zu erschüttern, genüge es nicht, dass der Voranfahrende in der Anfangsphase grundlos abbremst. Voraussetzung ist vielmehr, dass ein "starkes Abbremsen" nachgewiesen werde, das über das Maß eines normalen Bremsvorgangs hinausgeht. Und eben dies konnte im hiesigen Fall nicht festgestellt werden. Hierbei berücksichtigte der Senat auch, dass das Klägerfahrzeug gerade erst angefahren war und somit ein starkes Abbremsen gar nicht möglich gewesen wäre. Dessen Halterin muss sich allerdings eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr von 20 % anrechnen lassen.
Hinweis: Nach starkem Abbremsen ohne zwingenden Grund kann trotz grünem Ampellicht eine alleinige Haftung des Abbremsenden in Betracht kommen. Ein starkes Abbremsen ohne zwingenden Grund muss der Auffahrende allerdings beweisen können, da im gleichgerichteten Verkehr grundsätzlich von einem Alleinverschulden des Auffahrenden aufgrund des gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweises auszugehen ist.
Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 19.03.2024 - 7 U 82/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Der Straßenverkehr ist eine Art Spiegel gesellschaftlicher Schieflagen. Auch der folgende Fall zeigt, dass alles einfacher wäre, würden sich alle an bestehende Regeln halten und zudem jene Rücksicht nehmen, die sie selbst auch erwarten. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) musste im folgenden Fall zuerst die prozessualen Erfolgsaussichten abwägen, um über eine begehrte Prozesskostenhilfe (PKH) zu entscheiden.
Ein Fußgänger, der spätere Beklagte, trat auf einen Radweg, ohne auf den dortigen Radverkehr zu achten. Es kam, wie es kommen musste, um als Fall hier behandelt zu werden: zur Kollision mit einem Radfahrer. Der Radfahrer verlangte in der Folge Schadens- und Schmerzensgeld von dem Fußgänger. Dieser Beklagte beantragte seinerseits für das gerichtliche Verfahren PKH. Doch dieses Ansinnen hatte in den Augen des zu entscheidenden Gerichts keinerlei Aussicht auf Genehmigung.
Das OLG hat durch Beschluss den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung führt das Gericht aus, dass die Rechtsverteidigung des Beklagten keinerlei Aussicht auf Erfolg habe. Der Beklagte habe den Unfall allein schuldhaft verursacht. Zwar ist der Radweg kein Bestandteil der Fahrbahn - dennoch handelt es sich durchaus um einen durch Verkehrszeichen oder seine bauliche Gestaltung als solchen erkennbaren Sonderweg. Und dessen Benutzung ist primär Radfahrern vorbehalten. Fußgänger, die einen Radweg überqueren wollen, müssen folglich auf die Radfahrer Rücksicht nehmen. Ein Fußgänger darf einen Radweg erst betreten, wenn er davon überzeugt sein kann, dass er keinen Radfahrer gefährdet oder an dessen Weiterfahrt behindert. Ein Mitverschulden des Fahrradfahrers konnte hier nicht festgestellt werden. Insbesondere musste der Radfahrer seine Geschwindigkeit auch nicht auf die Möglichkeit einrichten, dass ein Fußgänger vor ihm auf die Fahrbahn treten wird.
Hinweis: Beim Überqueren eines Radwegs müssen Fußgänger auf die Radfahrer Rücksicht nehmen. Sie dürfen einen Radweg erst dann überqueren, wenn eine Behinderung ausgeschlossen ist (§ 25 Abs. 3 Straßenverkehrs-Ordnung). Laut statistischem Bundesamt ereigneten sich im Jahr 2021 rund 85.000 Fahrradunfälle, wobei E-Bikes oder Pedelecs an 17.000 Unfällen beteiligt waren.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 12.03.2024 - 12 W 7/24
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Steht eine Verurteilung in einer Bußgeldsache einer weiteren Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entgegen, wenn beide Taten zeitgleich im selben Fahrzeug verwirklicht werden? Das Amtsgericht Kaiserslautern (AG) meinte ja - das Oberlandesgericht Zweibrücken (OLG) sah das jedoch anders.
Der Angeklagte hatte im Dezember 2022 mit seinem Pkw am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen, obwohl er nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis war. Bei einer Verkehrskontrolle wurde zudem festgestellt, dass der Angeklagte den Termin zur Vorführung seines Fahrzeugs zur Hauptuntersuchung (HU) überschritten hatte. Daher wurden sowohl ein Strafverfahren als auch ein Bußgeldverfahren gegen den Angeklagten eingeleitet. Das AG hatte den Angeklagten wegen einer Ordnungswidrigkeit des fahrlässigen Überschreitens des Termins zur Vorführung zur HU in dem Bußgeldverfahren zu einer Geldbuße von 60 EUR verurteilt. Das Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis wurde durch das AG jedoch eingestellt, da es davon ausgegangen ist, dass durch die Verurteilung in der Bußgeldsache in der Strafsache ein sogenannter Strafklageverbrauch eingetreten sei - niemand darf wegen einer Tat mehrmals abgeurteilt werden.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat das OLG das nun Urteil aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das AG zurückverwiesen. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass das in der Bußgeldsache ergangene Urteil der Verfolgung des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht entgegenstehe. Die Ausführungshandlungen der beiden Delikte deckten sich nicht einmal teilweise. Bei der Ordnungswidrigkeit habe der Angeklagte in seiner Funktion als Kfz-Halter den Entschluss gefasst, einer gesetzlichen Handlungspflicht nicht nachzukommen. Sein Entschluss für das Fahren ohne Fahrerlaubnis beruhe hingegen auf einem gesondert gefassten Tatentschluss. Eine sogenannte "innere Verknüpfung" beider Handlungen, die über eine bloße punktuelle Gleichzeitigkeit hinausgehe, liege daher nicht vor.
Hinweis: Sogenannte materiell-rechtlich selbständige Taten sind meist auch prozessual selbständig, falls nicht besondere Umstände die Annahme einer Tat rechtfertigen. Letzteres wird angenommen, wenn die Handlungen innerlich stark miteinander verknüpft sind, so dass nur ihre gemeinsame Würdigung sinnvoll und möglich ist, während eine getrennte Würdigung sowie Aburteilung in verschiedenen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden werden würde.
Quelle: OLG Zweibrücken, Urt. v. 29.01.2024 - 1 ORs 1 SRs 16/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Da ist er - unser erster Fall in Sachen THC-Grenzwert. Dabei war es am Amtsgericht Dortmund (AG), eine Entscheidung zu treffen, ob der bisherige Grenzwert von einer neuen Zahl abgelöst wird - und wenn ja, von welcher und von wem festgelegt. Wie dem Hinweistext zu entnehmen, wird es hierzu nicht nur juristische Meinungsverschiedenheiten, sondern auch Diskussionen um prinzipielle Grundhaltungen und Umsetzungsformen geben.
Der Sachverhalt ist kurz und knapp dargelegt: Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, vor dem 01.04.2024 einen Pkw geführt zu haben, obwohl er unter der Wirkung berauschender Mittel gestanden habe. Eine Blutprobe hatte ihm eine THC-Konzentration von 3,1 ng/ml nachgewiesen.
Das AG hat den Betroffenen freigesprochen. Der bisherige Grenzwert habe zwar bei 1,0 ng/ml gelegen - dieser gelte seit dem 01.04.2024 mit Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes aber nicht mehr. In der Anlage zu § 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG) werde lediglich das Wirkungsverbot von THC genannt, nicht aber ein im Straßenverkehr maßgeblicher Grenzwert. Dieser sei in der Vergangenheit von der Rechtsprechung anhand rechtsmedizinischer Vorschläge festgesetzt worden.
Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die nunmehr den Grenzwert 3,5 ng/ml vorgeschlagen habe. Dazu hieß es in der Pressemitteilung des Ministeriums: "Die wissenschaftlichen Experten geben folgende Empfehlung ab: Im Rahmen des § 24a StVG wird ein gesetzlicher Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC-Blutserum vorgeschlagen. Bei Erreichen dieses Grenzwertes ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Fahrzeugs nicht fernliegend, aber deutlich unterhalb der Schwelle, ab der ein allgemeines Unfallrisiko liegt." Das AG sieht in dieser Form der Stellungnahme ein antizipiertes Sachverständigengutachten. Es seien auch keine weiteren Schritte für die Umsetzung des Grenzwerts in die verkehrsrechtliche Praxis vorgesehen.
Hinweis: Für die Praxis ist diese Entscheidung wesentlich, da die darin enthaltene Argumentation auf alle noch offenen Cannabisordnungswidrigkeitsverfahren anwendbar sein dürfte. Anders als das AG hat aber das - Überraschung - Bayerische Oberste Landesgericht in einem Beschluss vom 02.05.2024 (202 ObOWi 374/24) entschieden. Der Senat vertrat die Auffassung, dass nach derzeit unverändert gültiger Rechtslage keine Veranlassung bestehe, von dem sogenannten analytischen Nachweisgrenzwert für THC bzw. Cannabisprodukte von 1 ng/ml THC im Blutserum abzuweichen.
Quelle: AG Dortmund, Urt. v. 11.04.2024 - 729 OWi-251 Js 287/24 - 27/24
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Zum Thema Sonstiges
- "Vorverlegt = annulliert": Bereits eine Vorverlegung eines Flugs von nur einer Stunde kann Entschädigungsansprüche auslösen
- Flugverspätung durch Gepäckverladung: Personalmangel kann außergewöhnlichen Umstand darstellen - muss aber nicht
- Fünffach verklickt? Erfordert ein Reisestorno mehrere Onlineschritte, kann nicht von einem Versehen ausgegangen werden
- Grenzen der Dispositionsmaxime: Verstoßen beide Parteien gegen das Schwarzarbeitsgesetz, sind alle wechselseitigen Ansprüche nichtig
- Widerruf des Coachingvertrags: Bis zur tatsächlichen Unternehmensgründung hat ein Kunde die Rechte von Endverbrauchern
Wird ein Flug annulliert oder vorverlegt, müssen Fluggesellschaften ihre Passagiere darüber informieren. Wie das genau zu erfolgen hat, zeigt dieser Fall, den der Bundesgerichtshof (BGH) zu klären hatte.
Eine Reisegruppe hatte eine Pauschalreise gebucht. Für die Rückreise verfügte sie über eine bestätigte Buchung für einen Flug am 14.09.2019 von Burgas in Bulgarien nach Köln/Bonn mit Abflug um 23:55 Uhr. Als einer der Reisenden am 18.08.2019 für alle Sitzplätze reservierte, erfuhr er von einer Vorverlegung der Abflugzeit auf 4:30 Uhr. Er unterrichtete die anderen hierüber, woraufhin diese eine Ausgleichszahlung von 400 EUR pro Person gerichtlich geltend machten. Und tatsächlich hatten sie einen Anspruch auf die Zahlung.
Die Vorverlegung eines Flugs um mehr als eine Stunde ist nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Annullierung anzusehen. Danach obliegt es dem Luftfahrtunternehmen, die erforderlichen Informationen an den Fluggast zu übermitteln. Dies gilt auch dann, wenn der Beförderungsvertrag über einen Dritten abgeschlossen wurde. Auch in solchen Konstellationen wird der bei einem Verstoß gegen die Verpflichtungen aus der Verordnung zu leistende Ausgleich allein vom ausführenden Luftfahrtunternehmen geschuldet. Die Mitteilung der geänderten Flugzeiten an den Pauschalreiseveranstalter hat der BGH dabei als nicht ausreichend angesehen.
Hinweis: Auch die Vorverlegung eines Flugs nur um eine Stunde ist also eine Annullierung im Rechtssinne und kann Entschädigungsansprüche auslösen.
Quelle: BGH, Urt. v. 30.01.2024 - X ZR 135/22
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Nach dem Unionsrecht ist eine Fluggesellschaft nicht verpflichtet, für eine Verspätung Ausgleichszahlungen zu leisten, sobald sie nachweisen kann, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich selbst dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Ob der mittlerweile allgegenwärtige Personalmangel dazu gehört, musste nun der Europäische Gerichtshof (EuGH) klarstellen.
Bei einem Flug von Köln-Bonn zur griechischen Insel Kos kam es zu einer Verspätung von vier Stunden. Diese Verspätung war auf mehrere Gründe zurückzuführen, hauptsächlich aber auf einen Mangel an Personal des Flughafens Köln-Bonn für die Gepäckverladung in das Flugzeug. Mehrere Fluggäste verlangten daraufhin Ausgleichszahlungen. Das zuständige deutsche Gericht legte dem EuGH daraufhin Fragen zur Beantwortung vor. Insbesondere wollte das Gericht wissen, ob ein Personalmangel des Flughafenbetreibers eine Ausgleichszahlung abwehren kann.
Der EuGH entschied dazu: Bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber kann es sich durchaus um einen "außergewöhnlichen Umstand" handeln. Das deutsche Gericht muss nun beurteilen, ob die Mängel von der Fluggesellschaft nicht beherrschbar waren. Beherrschbarkeit setzt vor allem voraus, dass die Fluggesellschaft befugt wäre, eine tatsächliche Kontrolle über den Flughafenbetreiber auszuüben. Selbst wenn das Gericht feststellen sollte, dass es sich bei dem fraglichen Personalmangel um einen außergewöhnlichen Umstand handelt, wird die Fluggesellschaft ferner zur Befreiung von ihrer Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste zum einen nachweisen müssen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Zum anderen wäre dann aber auch zu belegen, dass sie gegen dessen Folgen alle der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hatte.
Hinweis: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich die Fluggesellschaft nicht mit dem Argument "Personalmangel" herausreden können, sondern eine Entschädigungszahlung leisten müssen.
Quelle: EuGH, Urt. v. 16.05.2024 - C-405/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Was passiert, wenn jemand aus Versehen im Internet eine Reise storniert, können wir an dieser Stelle nicht konkret beantworten. Was aber klar ist: Dem Gericht, wie hier dem Amtsgericht München (AG), muss glaubhaft gemacht werden, dass es sich überhaupt um ein Versehen handelt. Im folgenden Fall, bei dem es unter Zuhilfenahme eben eines Versehens um Rückzahlung einer Stornogebühr ging, gelang dies eben nicht.
Ein Mann hatte zum Preis von 4.500 EUR eine neuntägige Reise für sich und seine Ehefrau im Juni 2023 nach Faro in Portugal gebucht. Im Anschluss stornierte er im Internet auf der Homepage des Reiseunternehmens die Reise. Das Unternehmen buchte sodann vom Konto des Manns Stornierungsgebühren von knapp 4.000 EUR ab. Damit war der Mann nicht einverstanden. Er behauptete, er habe erst nach Buchung der Reise erfahren, dass neben dem Hotel eine Baustelle liege. Er habe sich zudem im Internet lediglich über eine Umbuchung informieren wollen und habe wegen der Unübersichtlichkeit der Homepage die Reise unbeabsichtigt storniert. Er habe deswegen die abgegebene Willenserklärung zur Stornierung angefochten. Schließlich klagte er die Rückzahlung des Geldes ein - vergeblich.
Das AG glaubte dem Mann schlichtweg nicht, dass er die Reise nur versehentlich storniert habe. Denn die Stornierung im Internet war mit einem Prozess von fünf Schritten relativ kompliziert gestaltet. Es kann zwar nach der allgemeinen Lebenserfahrung grundsätzlich möglich sein, dass man versehentlich einmalig etwas anklickt, was dem eigentlichen Willen nicht entspricht. Es erscheint jedoch lebensfremd, dass bei der Durchführung eines Vorgangs - wie hier der Buchungsstornierung mit insgesamt fünf verschiedenen Schritten - jedes Mal ein "Verklicken" vorgelegen haben soll.
Hinweis: Sofern Mängel bei einer Reise geltend gemacht werden sollen, ist es ganz wichtig, diese noch vor Ort zu rügen und sie dann auch beweissicher festzuhalten.
Quelle: AG München, Urt. v. 18.04.2024 - 275 C 20050/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Was passiert, wenn objektiv Schwarzarbeit vorliegt, dies aber von beiden Seiten bestritten wird, zeigt dieser Fall des Oberlandesgerichts Hamm (OLG) auf. Liegen nämlich klare Beweise für eine solche illegale Absprache der Vertragsparteien vor, wird in der Folge ein zivilrechtlicher Grundsatz außer Kraft gesetzt. Um was es sich bei diesem Grundsatz - der "Dispositionsmaxime des Zivilrechts" - handelt, lesen Sie hier.
Ein Mann besaß einen Landschaftsbaubetrieb. Nun sollten umfangreiche Arbeiten an einem Garten durchgeführt werden. Er traf sich an seinem Grundstück mit einem Landschaftsbauer. Dieser erstellte einen Kostenvoranschlag über 16.645 EUR, der keine Mehrwertsteuer auswies, und übermittelte diesen per E-Mail dem Kunden. Der erklärte sich per WhatsApp damit einverstanden. Die Arbeiten wurden aufgenommen, dann aber wegen winterlicher Witterung unterbrochen. Letztendlich wurden die Arbeiten nicht fertiggestellt, und die Zusammenarbeit der Parteien wurde beendet. Der Landschaftsbauer erteilte dann eine Schlussrechnung über 21.843 EUR inkl. Umsatzsteuer. Die Rechnung wurde allerdings nicht ausgeglichen, woraufhin auch geklagt wurde. Der Kunde verlangte dann widerklagend die Rückzahlung angeblich geleisteter Barzahlungen von über 10.000 EUR.
Das OLG wies sowohl Klage als auch Widerklage ab. Nach Ergebnis der Beweisaufnahme lag für das Gericht eine sogenannte "Ohne-Rechnung-Abrede" vor, die die Nichtigkeit des gesamten Vertrags zur Folge hat (§ 134 Bürgerliches Gesetzbuch in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 2 Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG)). Es bestanden somit keinerlei wechselseitige Ansprüche der Parteien.
Die sogenannte Dispositionsmaxime des Zivilrechts besagt als bedeutendster Verfahrensgrundsatz zwar, dass ein als zivilrechtlicher Rechtsstreit vor Gericht ausgetragenes Verfahren grundsätzlich durch die Parteien beherrscht wird. Doch in Fällen wie diesen, in denen die Parteien gemeinsam vorsätzlich gegen das Verbot des § 1 Abs. 2 Nr. 2 SchwarzArbG verstoßen, stößt diese Dispositionsmaxime an ihre Grenze. Sonst könnten die Folgen dieses Verstoßes schließlich durch übereinstimmenden wahrheitswidrigen Parteivortrag umgangen werden. Ist ein Zivilgericht also von den Tatsachen überzeugt, die einen Verstoß gegen das genannte Verbot begründen, ist es den Parteien nachträglich nicht möglich, die Folgen des Gesetzes mit Hilfe zivilprozessualer Vorschriften zu umgehen.
Hinweis: Das OLG hat die Möglichkeit der Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) zugelassen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der BGH anders entscheiden wird.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 06.03.2024 - 12 U 127/22
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(aus: Ausgabe 07/2024)
Wer als Unternehmer auftritt, hat weniger Rechte als ein Endverbraucher. Das sollte bei Vertragsschlüssen stets bedacht werden. Im Fall des Landgerichts Landshut (LG) hatte der Kläger Glück - denn er befand sich noch im Gründungsprozess und kam daher als Endverbraucher statt als Unternehmer zu seinem guten Recht.
Ein Mann wollte sich selbständig machen und war durch Werbung auf YouTube und Instagram auf einen Coachinganbieter aufmerksam geworden. Dieser warb damit, dass sich mit seinem Coaching binnen kürzester Zeit und ohne Vorkenntnisse ein garantiertes signifikantes passives Einkommen erwirtschaften ließe, und gab dafür eine "110 % Erfolgsgarantie". Der Kunde buchte nach einer telefonischen Beratung das Produkt "Digital Reselling - Einkommen auf Autopilot". Im Rahmen des Vertragsschlusses wurde ein Onlineverkaufsformular ausgefüllt. Während des Telefongesprächs wurde auf dem Onlineformular ein Haken bei einer Checkbox gesetzt, die folgenden Wortlaut aufwies: "Hiermit stimme ich zu, dass ... mit der Ausführung des Vertrages vor Ablauf der Widerrufsfrist beginnt. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass ich mit dieser Zustimmung mit Beginn der Ausführung des Vertrages mein Widerrufsrecht verliere." Im Anschluss daran erhielt der Kunde eine Rechnung über 5.735 EUR brutto und eine gestaffelte Ratenzahlung, auf die er 1.927 EUR zahlte. Dann erklärte er jedoch den Rücktritt vom Vertrag und klagte auf Rückzahlung seines Geldes.
Das LG hat der Klage stattgegeben und zudem festgestellt, dass kein Anspruch auf Zahlung von weiteren 3.808 EUR aus dem Vertrag bestand. Zwischen den Parteien war ein Fernabsatzvertrag zustande gekommen. Bei dem Kunden handelte es sich - noch! - nicht um einen Unternehmer, sondern um einen Verbraucher. Er hatte sich noch nicht zur Aufnahme eines Unternehmens entschlossen, sondern diese Entscheidung allenfalls vorbereitet. Deshalb hatte der Kunde wirksam den Fernabsatzvertrag widerrufen. Die Widerrufsfrist hatte auch noch nicht zu laufen begonnen, da er nicht über sein Widerrufsrecht belehrt worden war.
Hinweis: Endkunden sollten daran denken, dass die Möglichkeit des Widerrufs für Geschäfte im Internet eine Besonderheit ist und nicht bei Käufen vor Ort gilt. Beim Kauf im Geschäft gibt es keine Möglichkeit des Widerrufs oder der Rückgabe der gekauften Gegenstände, es sei denn, der Verkäufer sichert ein solches Recht zu.
Quelle: LG Landshut, Urt. v. 10.05.2024 - 54 O 305/24
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 07/2024)